Entzauberung und Tagträumerei

"Wir sind gelähmt vor Angst", zitiert Tobias Haberl am Anfang seines Buches über Die große Entzauberung die französische Autorin Virginie Despentes. Und auch Susanne Niemeyer konstatiert als Ausgangspunkt für ihr Buch über die Neugierde einen Verlust: die Neugier, sie hat sich "davongeschlichen".

Zwei Autoren irgendwo in ihren 40ern. Eine Lebenssituation, die die meisten kennen: materiell abgesichert, frei von größeren Sorgen und Nöten, rundum versorgt und digital vernetzt. Die Wohlstandsgesellschaft lässt nichts zu wünschen übrig. Wirklich?

"Eigentlich kriege ich mein Leben gut auf die Reihe", sagt Niemeyer. Altersvorsorge ok, gesundes Leben kein Problem, Freunde, Facebook, Netflix – alles da. Aber:

In meinem Umfeld fehlt es vielen an Zeit. Wir arbeiten viel, sind chronisch erschöpft, pflegen die Ironie besser als die Nüchternheit und setzen eher auf Oliver Welke und die Heute-Show als auf Jesus. Wir suchen statt dem Sinn des Lebens eine passende Altersvorsorge, die Ideale unserer Jugend finden wir irgendwie richtig, aber auch ganz niedlich. Wir haben es geschafft, ohne genau sagen zu können, was.

Diese Passage ist eine der wenigen in ihrem Buch Was machen Tagträumer nachts?, in der Niemeyer im Namen eines kollektiven Subjekts spricht. In der Regel erzählt sie von sich und setzt sich mit ihren persönlichen Fragen und ihrer eigenen Geschichte auseinander. Wahrheit? Kann nur konkret sein.

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Anders Tobias Haberl. In Die große Entzauberung geht es ihm darum, mit dem "trügerischen Glück des heutigen Menschen" aufzuräumen. Natürlich, gibt er zu, geht es uns gut, wenn man den Statistiken Glauben schenkt. Aber: "Können Zahlenkolonnen zeigen, wie es uns geht?" Haberl zweifelt (und verzweifelt) an den Fortschrittserzählungen und Schulterklopfern des Zeitgeists. Eine abgrundtiefe Traurigkeit durchzieht sein teilweise recht dunkel raunendes Werk. Haberl sieht unsere Welt an und fürchtet die Zukunft:

aufgeräumt, aber leblos, hübsch aber langweilig, sicher, aber kontrolliert wie ein Straflager – ein Ort ohne Zauber, aus dem sich jedes Temperament und jede Lebendigkeit verabschiedet haben.

Natürlich, das weiß auch Haberl: unser Leben ist einfacher, angenehmer, friedlicher als jemals zuvor – aber um welchen Preis?

Ich finde den Preis, den wir für Sicherheit, Bequemlichkeit und Fortschritt zu zahlen bereit sind, zu hoch, weil wir nichts Geringeres erleben als die Säuberung der Welt von jeder Poesie.

Also borgt er sich von Max Weber den Begriff der "Entzauberung der Welt" und macht ein Gruppenbild mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, um seine Klageschrift auf prominente Schultern stellen zu können. Und dann legt er los mit einer Zitatschlacht und einer Generalabrechnung, die auf Dauer schwer zu ertragen ist – und von der man auch kaum so recht weiß, wozu sie gut sein soll.

Es ist ja nicht so, dass ich dieses Unbehagen nicht verstehe. Die Digitalisierung betrachte ich mindestens skeptisch; Google will ich weder meine Daten noch meine Neugierde anvertrauen; und eine kurze Begegnung auf der Straße bedeutet mir mehr als 100 Likes auf Facebook oder Instagram. Doch dieser Rundumschlag, diese verkürzte Zusammenfassung verschiedenster Phänomene unter einem Begriff ist mir suspekt. Wohin führt das? Welchen Erkenntnisgewinn bringt das, jenseits von viel schlechter Laune und künstlich erzeugter Empörung?

Von Novalis zu Michel Houellebecq ("Es passiert mir, dass ich mich frage, wozu ich noch am Leben bin."), von Friedrich Nietzsche bis Peter Sloterdijk: Haberl hat für sein Buch viel gelesen. Dumm nur, dass man manche seiner Diagnosen anderswo sachlicher und detailliert gelesen hat – zum Verschwinden der Vielfalt etwa bei Thomas Bauer, zur ambivalenten Rolle von Social Media bei Jaron Lanier.

Haberl beklagt das Leben in der Komfortzone, "ohne Neugierde, ohne Temperament, ohne Mut, ... ohne echte Menschlichkeit", und irgendwie möchte man immer mehr über das "Aber" erfahren, dass der Autor mitunter einfügt, das ihn aber nicht so recht interessiert. Lieber beschreibt Haberl, wie er Glamour und Risiko, Melancholie und Schönheit in diesem "sicheren, gesunden und moralischen Leben" vermisst, wie es die Grünen seit Jahren erfolgreich propagieren:

Es ist ein in Watte gepacktes Leben, mit dem sich die urbane Elite von den Schichten, die über ihr protzen und unter ihr verzweifeln, abzugrenzen sucht, eine endlose Reise durch eine Tempo-30-Zone, das Dasein einer temperamentlosen Vorsorgegesellschaft, die es unverantwortlich findet, ein Risiko einzugehen.

Tobias Haberl: Die große Entzauberung. Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen. Blessing Verlag 2019

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Susanne Niemeyer kennt das Gefühl des Mangels, doch sie sucht (und findet) einen anderen Weg, mit ihm umzugehen. Mit ihrem Temperament geht sie einfach über die Frage hinweg, wie viel Temperamentlosigkeit sie umgibt; Risiken scheut sie keine, ohne deshalb gleich in Rücksichtslosigkeit zu verfallen. Bequemlichkeit, Sicherheit, die zur Schau gestellten Leben auf Instagram und Facebook sind auch ihre Sache nicht, und so begibt sie sich in kleinen spielerischen Essays in Geschichtenform auf die Suche nach ihrer Neugierde, nach Kraftquellen, nach Sehnsuchtsorten. Wie so oft in ihren mittlerweile zahlreichen Büchern beginnt sie ganz nah bei sich, um im Spiel mit Worten, Geschichten, Erinnerungen und immer wieder auch der Bibel unverhoffte Freiräume und Ausblicke zu schaffen. Alles maximal subjektiv, unorthodox, kreativ.

Jede Frage ist ein Akt der Emanzipation. Ein Schritt in die Welt. Die Neugier öffnet das Tor nach draußen. Eva will es wissen und geht über das Bekannte und Vertraute hinaus. Ich verstehe Eva. Ich hätte auch nach dem Apfel gegriffen.

Sprach's – biss hinein – und schrieb schon. In kurzen, lose verbundenen Kapiteln, die jeweils einem Begriff oder Thema nachgehen, öffnet Susanne Niemeyer – nicht selten mit einer Portion Übermut – Türen, hinter denen kleine Entdeckungen warten.

"Früher war Sehnsucht mal mein Normalzustand", bekennt sie, um danach aber nicht in Larmoyanz oder Zynismus abzugleiten, sondern sich mit dem ihr eigenen Wohlwollen in ganz konkrete Situationen hinein zu schreiben. Zahlreiche Erinnerungen werden angezapft – und so erweist sich Was machen Tagträumer nachts? als kleine Schwester von Doris Dörrie's Leben Schreiben Atmen.

Ein Praxisbuch, das auf erfrischende Art zeigt, dass es noch immer weit mehr Fragen als Antworten gibt. Und dass es um die Neugier (die Phantasie, die Freiheit, die Sehnsucht, Gott?) nicht so schlecht bestellt ist. Du musst nur danach fragen.

Susanne Niemeyer: Was machen Tagträumer nachts? Von einer, die auszog, neugierig zu leben. Herder Verlag 2019